(Replik auf Markus Somms Kommentar, erschienen am 7.2.2012 in der BaZ, ungekürzte Version)
Alle meinen Experte im Asylbereich zu sein. So auch Stadtentwickler Thomas Kessler, der in einem Interview eine Analyse gemacht hat und seine teilweise fatalen Schlussfolgerungen daraus zog. Dass zentrale Zahlen falsch waren, interessierte niemanden. Ebenso wenig die despektierliche Ausdrucksweise, sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge als „Abenteuermigranten“ zu bezeichnen. Der Analyseteil war teilweise zutreffend, aber nicht neu, sondern lediglich eine Reproduktion von Berichten und Untersuchungen, die bereits bekannt waren. Chefredaktor Markus Somm nahm sich dem Thema dankend an, und verfasste einen Kommentar, dessen Inhalt so kurz gedacht war, wie die Zahl Kesslers, dass 90% der Asylsuchenden „Arbeits-und Abenteuermigranten“ seien. Ein Schätzwert, der weder belegt noch bestätigt worden ist. Die Zahl ist abenteuerlich hoch und schlicht falsch. 2011 wurden 22’551 Asylgesuche eingereicht, im gleichen Zeitraum wurden 3’691 Personen als Flüchtlinge anerkannt, 3’070 Personen wurden vorläufig aufgenommen. Das ist ein Anteil von 30% Schutzbedürftigen.
Wie schnell ein Schätzwert zu einem „wahren“ Referenzwert mutieren kann, wirft ein bedenkliches Licht auf alle, welche unscharf mit Wahrheit umgehen und die Medien welche diese Unschärfe nicht kritisch hinterfragen, sondern stärken.
Eine Beschleunigung der Asylverfahren ist zweifellos sehr zu begrüssen. Es ist unbefriedigend für Betroffene und Behörden, dass jemand monatelang in Ungewissheit über seine nahe Zukunft leben muss, und wird seit Jahren moniert. Beschleunigungsmassnahmen dürfen aber die Qualität der Verfahren nicht gefährden. Garantierte Rechtsstaatlichkeit unterscheidet die Schweiz von Bananenrepubliken. Die Schweiz hat eine humanitäre Tradition, auf die sie sich auch künftig berufen können soll und ist verbindlich in internationale Rechtssysteme eingebunden. Dies ist richtig so und vom Volkswillen getragen.
Kessler und Somm machen es sich einfach. Ihre Lösungsvorschläge sind nicht neu oder wenig fundiert. Beispielsweise erfindet Somm das Rad nicht neu, wenn er davon spricht, Asylexperten dahin schicken zu wollen, wo die Not am grössten ist. „Protection in the Region“ ist hier das zugehörige Stichwort. Projekte dieser Art gibt es seit langem, vom BFM finanziert.
Somm’s Schlussfolgerung, dann die CH Grenze für Asylsuchende schliessen zu können, ist hingegen bedenklich simpel, weltfremd und unsolidarisch. Die Schweiz liegt als eines der reichsten Länder der Erde mitten in Europa, wirtschaftlich vernetzt und abhängig, auch vom globalen Geschehen. Somm’s Blick ist ein Réduit-Blick. Was ausserhalb der Schweizergrenze passiert interessiert nur soweit, wie es unsere Sicherheit und unseren Wohlstand nicht gefährdet. Eine Sichtweise mit wenig Realitätsbezug und viel Egoismus.
Jetzt sind nachhaltige Lösungen und eine Re-Reorganisation des BFM gefragt. Die dringlich benötigten zusätzlichen Stellen müssen geschaffen werden. Bundesrätin Sommaruga ist auf einem guten Weg – auch wenn ihr noch viel Arbeit bevorsteht. Sie benötigt aber die Unterstützung ihrer BundesratskollegInnen, jene der Kantone und der Gemeinden. Und sie braucht Verbindlichkeiten vom Departement Maurer.
Ein konsequenter Wegweisungsvollzug von abgewiesenen Asylsuchenden, wie er von vielen gefordert wird, klingt im ersten Augenblick naheliegend. Diejenigen, deren Asyl verwehrt wird, müssen in ihren Heimatstaat zurückkehren.
Nur ist auch hier die Realität um einiges komplexer. Rücknahmeabkommen auszuhandeln bedingt eine enge Zusammenarbeit der Bundesdepartemente. Eine gut koordinierte Aussenpolitik ist zwingend. Wirtschaftliche Interessen, Migration und Entwicklungszusammenarbeit müssen als Gesamtpaket verhandelt werden. Leere Worte helfen in der globalisierten Welt nicht weiter um eine Gerechtigkeit herzustellen, in der nicht mehr alle drei Sekunden ein Mensch an Hunger sterben muss. Die Schweiz trägt Mitverantwortung für das Weltgeschehen, auch bei der Schaffung von Fluchtgründen.
Sowohl Kessler wie auch Somm verzichteten darauf, seriöse Fakten zu liefern und echte Lösungen anzubieten. 1999 gab es in der Schweiz beinahe 50‘000 Asylgesuche, 2011 waren es 22’551 und man ist damit heillos überfordert. Wie kann das sein? Es ist keine Flüchtlingswelle, die uns zu schaffen macht. Es ist ein strukturelles Problem, kreiert durch Ex-Bundesrat Blocher, der das Asylwesen und seine Finanzierung anno 2006 auf den abenteuerlichen Referenzwert von 10’000 Asylgesuchen pro Jahr ausgerichtet hatte – wider lautes Rufen aus Kantonen und Fachebene. Nun gilt es aus gemachten Erfahrungen zu lernen. Anpassungen an die Wirklichkeit sind angesagt.
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